Der Geist einer Sprache offenbart sich am deutlichsten

in ihren unübersetzbaren Worten.

Marie v. Ebner-Eschenbach

 

 

Leseprobe

 

aus:  Gill Sims „Mami will auch mal - Tagebuch einer entfesselten Mutter“ (Eisele, 2021)

 

 

Beinahe achtzehn Jahre lang war ich über jedes einzelne Detail

im Leben meiner Sprösslinge informiert. Ich musste mir ihr

endloses Gequassel anhören (»Und dann hat Lea zu Lara gesagt

… und Sophie hat gesagt … nein, nicht die Leah, Mami, die

Lea ohne h …«), wurde nach meinem Lieblings-Pokémon gefragt

und dann darüber aufgeklärt, warum die anderen alle viel

besser seien, und dachte in dieser Zeit unzählige Male: Herrgott

noch mal, nun haltet doch endlich mal fünf Minuten den

Schnabel! Und siehe da, eines Tages tun sie genau das! Es ist ein

Wunder! Aber auch ein bisschen seltsam.

Ich befinde mich dieser Tage in einem merkwürdigen Zwischenstadium:

Sie brauchen mich noch, aber nicht mehr so

dringend wie früher. In meinen vier Wänden wimmelt es nach

wie vor regelmäßig von lärmenden, müffelnden, gefräßigen

Wesen, aber ich darf nichts über sie wissen, weder was sie treiben,

noch wo sie hingehen, noch warum sie fünfzehn leere

Chipstüten auf dem Deckel des Abfalleimers gestapelt haben,

als hätten sie eine Art Müll-Jenga gespielt. Ich bin immer noch

ihre Mutter, aber in vielerlei Hinsicht sind sie mir fremd geworden.

Ich weiß absolut alles über sie, und zugleich habe ich keine

Ahnung, wer sie sind. Was zum Teil daran liegt, dass sie selbst

nicht wissen, wer sie sind, das ist mir klar. Sie befinden sich in

einer Übergangsphase – hinter sich das Kind, das sie waren, vor

sich der Erwachsene, der sie einmal sein werden. Ein schwacher

Trost.

 

Ganz schön verwirrend, das alles. So wollte ich das eigentlich

nicht haben. Ich wollte bloß, dass sie aufhören, mir die Ohren

vollzulabern, dass sie ihr Gemüse essen, ohne einen Aufstand

zu machen, dass sie mich in Ruhe aufs Klo gehen lassen und lernen,

wie man einen anständigen Gin Tonic mixt. Als sie noch

klein waren, dachte ich allen Ernstes, es würde sich nie etwas

ändern. Damals fühlte es sich so an, als würde alles so bleiben,

wie es war. Jeder Tag zog sich schier endlos hin, nichts als Duplosteine

und Gebrüll und vollgekackten Windeln, dazu diese total beknackten

Teletubbies und die allabendliche Gutenachtgeschichte,

und kein Ende in Sicht.

 

Aber jetzt ist es auf einmal doch da,

das Ende dieser Ära, und ich muss sagen, ich trauere ihr kein

bisschen nach, obwohl mir genau das unzählige Male prophezeit

wurde. Wann immer ich einen schlechten Tag hatte, tauchte

wie aus dem Nichts eine dieser oberschlauen alten Schabracken

auf und riet mir, diese Zeit auszukosten, denn sie sei ja so

schnell vorüber. Ich weiß noch, wie mir Peter einmal während

eines Einkaufs bei Tesco ins Dekolleté reiherte, während Jane

einen Tobsuchtsanfall bekam, weil ich sie daran gehindert hatte,

eine Flasche Tequila aufzuschrauben und daraus zu trinken,

und als ich in Tränen ausbrach und heulte: »Oh Gott, es reicht,

ich kann nicht mehr! Ich hasse mein Leben!«, tätschelte mir

doch glatt eine dieser rüstigen Rentnerinnen den Arm und zwitscherte:

»Genießen Sie jeden Tag, solange die beiden noch klein

sind – Sie werden später einmal wehmütig daran zurückdenken.«

Ich überlegte in dem Moment ernsthaft, ob ich ihr eins

mit der Flasche überziehen sollte, die ich Jane gerade abgenommen

hatte, oder ob ich mir lieber an Ort und Stelle ein paar kräftige

Schlucke Tequila gönnen sollte.

 

Nein, diese Zeit fehlt mir ganz und gar nicht.

Nicht ein einziges Mal habe ich in den vergangenen

Jahren in einem Supermarkt gestanden und betrübt

bei mir gedacht: Ach, wie schön wäre es doch, wenn mir eine

meiner beiden Pestzecken auf Schritt und Tritt nachlaufen und

»Mami, ich will … Mami, kann ich … Mami, darf ich … Mami,

warum nicht?« nölen würde, während das zweite Kind versucht, sich

beim Sturz aus dem Einkaufswagen den Schädel zu spalten, sodass

wir schnurstracks in die Notaufnahme fahren müssen.

Ich sehne mich weder danach, mal wieder jemandem den Allerwertesten

abzuwischen, noch trauere ich den ach-so-glücklichen

Tagen nach, als sämtliche Oberflächen in unserem Zuhause

mit Glitzer und Kleber verkrustet waren, als hätte ein

hyperaktives, inkontinentes Einhorn dort gewütet. Aber es ist

schon etwas gewöhnungsbedürftig, dass Peter und Jane meine

Existenz kaum noch zur Kenntnis nehmen, nachdem ich für

sie so lange der Nabel der Welt war, die zentrale Anlaufstelle für

das Verarzten von Blessuren und das Trocknen von Tränen, für

Geborgenheit, Bespaßung und Wissensvermittlung. Natürlich

brauchen sie mich auch jetzt noch gelegentlich, etwa, wenn

Peter mal wieder den Käse im Kühlschrank sucht, obwohl er direkt

vor seiner Nase liegt. Oder wenn Jane den letzten Bus aus

der Stadt verpasst hat. Dann soll sich Mami am liebsten zu ihr

beamen und sie stante pede nach Hause bringen. Wann immer

es regnet und sie irgendwo hinmüssen, wann immer sie Geld

brauchen, fällt ihnen wieder die Frau ein, die ihnen das Leben

geschenkt, ihnen all ihre kindlichen Wünsche erfüllt und aufopferungsvoll

dafür gesorgt hat, dass sie glücklich und wohlauf

sind. Meistens, wenn ich bereits etwas vorhabe.

 

Und man stelle sich vor, gelegentlich bedanken sie sich sogar!

Allerdings nicht allzu oft. Meist betrachten sie meine

Dienste als völlig selbstverständlich und verbieten mir, in der

Gegenwart ihrer Freunde das Wort an sie zu richten, weil ihnen

schon meine bloße Existenz so unfassbar peinlich ist. Ich revanchiere

mich dann, indem ich sie vor besagten Freunden unüberhörbar

mit »Schnuckilein« und »Hasenpups« anrede und ihnen

wortreich versichere, dass Mami sie ganz schrecklich liebhat.

Es muss schließlich irgendeine Art von Entschädigung dafür

geben, dass ich Mutter bin. Ist man überhaupt eine richtige

Mutter, wenn man seine Sprösslinge nicht dann und wann bewusst

und in böswilliger Absicht vor ihren Freunden blamiert?

Vor einer Weile kam ich auf folgende geniale Idee: Ich drohte

damit, keinen BH zu tragen, wann immer ihre Freunde zu Besuch

waren, sollten sie nicht häufiger ihre Zimmer aufräumen

und mehr im Haushalt mithelfen. Hach, das war eine herrliche

Woche. Bis ihnen klar wurde, dass ich meine Drohung niemals

wahr machen würde, weil es mir mindestens ebenso peinlich

wäre wie ihnen, vor einem Trupp Teenager mit frei schwingenden

Pampelmusen in der Bluse durchs Haus zu stolzieren. Von

da an machten sie wieder Dienst nach Vorschrift. Dafür war

Janes Empörung groß, als ich eines Tages vor ihren Freundinnen

kundtat, ich sei keine normale Mum, sondern eine coole

Mum. Das war eine der Sternstunden meines Mutterdaseins.

Ach, was habe ich gelacht, während mein Töchterlein vor Wut

schäumte!

 

So viele Jahre dachte ich: Ach, wenn ich doch nur Zeit für dieses

oder jenes hätte, ein bisschen Zeit für mich … Tja, allmählich

zeichnet sich ab, dass ich schon sehr bald sehr viel Zeit für

mich haben werde. Ich fürchte nur, nachdem ich mich so lange

damit abgemüht habe, alles unter einen Hut zu bringen, nachdem

ich mir angewöhnt habe, ständig Multitasking zu betreiben

und alles in übermenschlichem Tempo zu erledigen, werde

ich nichts anzufangen wissen mit dieser vielen mir zur Verfügung

stehenden Zeit. Womöglich bin ich dann gezwungen,

mich zu fragen, wer ich inzwischen eigentlich bin. Was ist,

wenn mir die Antwort nicht gefällt? Was ist, wenn ich feststelle,

dass ich eine trantütige Trine mittleren Alters geworden bin,

die immer nur für ihre Kinder da war und jetzt, wo die lieben

Kleinen flügge sind, kann sie in Ermangelung eigener Interessen

nicht aufhören, sich in ihr Leben einzumischen? Was ist,

wenn ich über keine inneren Ressourcen verfüge, sei es, weil ich

nie welche hatte, sei es, weil sie mir abhandengekommen sind?

 

Eine der zahlreichen Geldverschleuderungsmaßnahmen, die

sich die Chefetage unserer Firma regelmäßig einfallen lässt, bestand

darin, eine externe Beraterin einzuladen, mit der alle Angestellten

ein Gespräch führen sollen. Auf diese Weise sollte

wohl überprüft werden, ob wir auch normal und fit im Ober-

stübchen sind oder ob einer von uns vorhat, mit einer Tackerpistole

Amok zu laufen. Im Zuge unserer »kleinen Unterhaltung«

bat mich besagte Beraterin, zehn Dinge zu nennen, die

ich gerne täte, einfach für mich.

Ich grunzte belustigt. »Nur zehn? Das wird schwierig. Also,

ich würde in Ruhe ein Bad nehmen. Ich würde den ganzen Nachmittag

lesen, ohne ständig von meinen Kindern unterbrochen

zu werden, weder persönlich noch per SMS, sollten sie bei ihrem

Vater sind. Ich würde … Hm … Ich würde …«

»Lassen Sie sich Zeit«, sagte die Beraterin freundlich.

»Jaja. Ich kann mich bloß nicht entscheiden … Also, ich …

Tja, ich weiß auch nicht. Oh Gott, ich habe keine Ahnung, was

ich sonst noch tun würde!«

Die Beraterin versicherte mir, das sei normal; die meisten

Menschen fänden es viel schwieriger als angenommen, eine solche

Liste zu erstellen. Sie trug mir auf, darüber nachzudenken

und mir mehr Zeit für mich selbst zu nehmen, um »ein bisschen

runterzukommen«. Natürlich habe ich das Problem danach

sofort verdrängt und nicht wieder darüber nachgedacht.

Aber vielleicht ist es nun doch mal an der Zeit, mir zu überlegen,

was ich alles machen würde, wenn ich die nötige Zeit dafür

hätte. Hm. Eine Kreuzfahrt auf dem Nil vielleicht (wobei ich

sehr enttäuscht wäre, wenn kein Mord geschähe). Oder einen

Reiturlaub … ich sah mich flüchtig durch die Wüste nach Petra

galoppieren, wie in einem Prospekt, den ich mal irgendwo gesehen

hatte, dann fiel mir wieder ein, dass ich nicht reiten kann

und Angst vor Pferden habe.

 

All das ging mir durch den Kopf, während ich vergeblich versuchte,

die Wohnzimmermöbel so zu verschieben, dass die Flecken,

die Klein Edwards schwarzer Johannisbeersaft auf dem Teppich

hinterlassen hatte (das Zeug ist leider deutlich hartnäckiger als

Rotwein), nicht mehr zu sehen waren. Ich rief mir in Erinnerung,

dass es im Moment noch ein richtiger Glücksfall war,

wenn ich mal einen Samstagabend für mich hatte. Jane hatte

mich nämlich vorhin per SMS informiert, sie gedenke bei Olivia

zu übernachten. Ich unterdrückte den Impuls, Olivias Mutter

anzurufen und mich zu erkundigen, ob meine Tochter auch

tatsächlich dort war. Jane ist fast achtzehn, sagte ich mir. Dir

bleibt gar nichts anderes übrig, als ihr zu glauben, denn wenn

du ihr nicht vertraust, erzählt sie dir künftig garantiert gar

nichts mehr. Und überhaupt geht sie schon bald auf die Uni,

und dann hast du ohnehin keine Ahnung, was in ihrem Leben

vor sich geht, es sei denn, sie berichtet dir davon. Ich schickte

ein kurzes Stoßgebet gen Himmel, auf dass sie bis dahin nicht

schwanger oder drogenabhängig wurde. Ich meine, natürlich

wäre es mir lieb, wenn sie auch später keine Drogen nähme,

aber bitte, bitte nicht schon bevor sie anfängt zu studieren. Sofern

sie es überhaupt an die Universität schafft. Alles steht und

fällt damit, dass sie ihre Reifeprüfung gut hinter sich bringt,

und in der Hinsicht verhält sie sich nach wie vor äußerst gleichgültig

und knurrt die ganze Zeit bloß »Chill mal, Mutter!«,

wann immer ich vorsichtig andeute, dass es möglicherweise angebracht

sein könnte, etwas mehr zu lernen und etwas weniger

Party zu machen.

 

Schließlich machte ich es mir mit dem ersten Glas Weißwein

und der Tüte Chips auf dem Sofa gemütlich und fragte mich,

wie viele Folgen von The Witcher ich mir zu meinem gesunden,

nährstoffreichen Dinner for One reinziehen konnte, ehe ich eindöste.

Und wie oft Henry Cavill wohl im Adamskostüm zu sehen

sein würde. Angeblich ist es verwerflich, sich so etwas zu

fragen, weil man die Männer dadurch zum Sexobjekt degradiert.

Aus denselben Gründen ist es auch verwerflich, Henry

Cavill als »Hottie« zu bezeichnen. Wie es scheint, mögen Männer

es nicht, wenn man sie zum Sexobjekt degradiert. Jedenfalls

habe ich das in einem Interview mit Aidan Turner alias »Oben-

Ohne-Captain Poldark« gelesen. Allerdings finde ich, ich habe

verdammt noch mal ein Recht darauf, halbnackte Männer im

Fernsehen anzuschmachten, nachdem ich es mir jahrzehntelang

gefallen lassen musste, dass irgendwelche Wichser bei

meinem Anblick »Heiße Titten, Herzchen!« johlten, gerne gepaart

mit der Aufforderung, ihnen doch ein Lächeln zu schenken.

Ja, man könnte mir vorwerfen, dass ich mit zweierlei Maß

messe, aber ganz ehrlich, ich bin der Ansicht, jetzt müssen es

zur Abwechslung mal die Männer aushalten, zu Sexobjekten

degradiert und lüstern grinsend beäugt zu werden. Kampf dem

Patriarchat! Wenn wir in ein paar tausend Jahren dann quitt

sind, können wir uns meinetwegen darauf einigen, dass kein

menschliches Wesen auf seine ausgesprochen muskulöse Brust

oder sein überaus beeindruckendes Schwert reduziert werden

sollte.



Mit freundlicher Genehmigung des Verlags